Auch das Fediverse wird AOLisiert

Ich mach‘ ja nun schon mit dem Internet seit 1990 rum, das Eine oder das Andere wiederholt sich da schon mal.

Ein paar Jahrzenhte im deutschsprachigen Internet. Initial eher etwas für Un­ter­nehmen und En­thusias­ten, da rück­blickend pro­hi­bi­tiv teuer, begann noch vor der Jahr­tausend­wende auch in Deut­schland die AOLisierung der bislang eher kauzigen Kreativen vorbehaltenen Onlinebereiche.

Newsgruppen – waren zwischen 1995 und 2005 Foren schon ein Ding? – bekamen neue Teilnehmer, die von den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen bzw. Gepflogenheiten, kurzum der Netiquette, weder etwas wußten — noch wissen wollten. In tagelanger Fleißarbeit aufeinander aufbauend kuratierte Threads – komische Leute nannten das plötzlich »Faden«, wohl von »Gesprachsfaden« kommend – wurden per Tofu-Post zerstört (»Text oben, Fullquote unten«). Anfangs noch kritisiert, mußte die alteingesessene Bewohnerschaft des Digitalen Dorfes einsehen, daß die neuen Nachbarn sich anders verhielten — und daß sie mehr waren. Viel mehr. (Zwischendrin gab’s noch die ›Gatewaykriege‹, als die Heim­tier­netze – Mausnetz, Fido, Zerberus – mit ihren anderen Darstellungsformen und eigenen Gepflogenheiten mit dem – und z. T. über das – Use- und Subnet verbunden wurden. Technisch und von der Idee her eine klasse Sache — aber die Erfahrung war für die eher unvorbereiteten Nutzer beider Seiten, erm, ›nicht immer schön‹. BTW, erinnert sich noch wer an den GATOR? »O-Pa!!!« Oh, ok, ich schweife ab …)

Aber eigentlich™ war das ja gut. »Das Internet« sollte ja kein Tool elitärer Zirkel bleiben, der damals viel besprochene »Information Highway«, die deutsche »Datenautobahn«, sollte ja nicht nur an Unis oder großen Städten vorbeifühen, sondern im ganzen Land von jedermensch genutzt werden können. Nun war AOL sicher nicht der Wunschdienst der Wahl, aber besser als der bundespostalische Bildschirmtext war selbst das — und mittels der Marketingmacht kamen eben auch breitere Bevölkerungsschichten mit »dem Internet« in Berührung.

Und so ähnlich lief es – Jahre später – auch bei »Social Media«. Twitter war erst eine Art SMS auf Drogen, anfänglich noch mit SMS-Ein- und -Auslieferungsoption (was, wie ich gerade lese, erst um 2019 bzw. 2020 abgestellt wurde — odd), irgendwann wurde es dann zum Massenphänomen, mit entsprechenden Auswüchsen und auch mehr Kommerzialisierung.

Und nun haben wir 2022, Elon Musk – der reichste Mann der Welt – hat Twitter, Inc. gekauft — schon das klingt nach einem ziemlich miesen Drehbuch. Und aktuell scheint er recht erfolgreich damit zu sein, Nutzer (ohne die Twitter keine Reichweite und damit keinen Wert für die Werbeindustrie hat) und Marketingverantwortliche (der primäre Beitrag zur Monetarisierung der Plattform war bislang die alle paar Tweets eingeschobene Werbung) gleichermaßen zu vergraulen:

Mastodon, a decentralized microblogging site named after an extinct type of mammoth, recorded 120,000 new users in the four days following billionaire Elon Musk’s acquisition of Twitter, its German-born founder Eugen Rochko tells TIME. Many of them were Twitter users seeking a new place to call their online home.

Ausschnitt aus einem Screenshot einen Threads auf Mastodon, bei dem alle Texte nur »Fediverse Kultur Debatte, meine Perspektive [MEHR ANZEIGEN]« lauten.
Ungewohnt bis unnütz: ›CW‹ (Content Warning) als Regel­setting für eine Dis­kus­sion? Was kommt als nächstes, Content-Pop­ups, die abfragen, ob man geistig ge­fes­tigt ge­nug ist, von ggf. ab­wei­chen­den Meinun­gen zu lesen?
Nun sind 120.000 Nutzer nix im Vergleich zur Nutzerzahl auf Twitter (396 Millionen monatlich aktive Nutzer) — aber zu den bisherigen gut 4 Millionen Nutzern bei Mastodon ist ein Wachs­tum um über 100.000 gar nicht so schlecht. Aber: Mastodon (oder das Fediverse) ist eben nicht Twitter. Die Nutzer hier or­gani­sieren sich selbst, pro Ser­ver gibt es eigene Re­geln — zwar über­wiegend ähnliche, aber während eine In­stanz eher die Atmo­sphäre eines ge­mütlichen Wohn­zimmers er­zeugt sehen möchte, mögen andere auch eine laute Stamm­tisch­dis­kussion goutieren, so­lange es hin­reichend zivi­lisiert und sach­lich zugeht. Insofern kommt wohl auf die bisherigen Nutzer im Fedi­verse auch eine Ver­änder­ung zu, wie sie in der Ver­gangen­heit schon über das Usenet, Mail, Twitter, … her­ein­brach.

Flow Chart von @cassolotl@queer.party, wie die drei Timelines von Mastodon befüllt werden.
Flow Chart, wie die drei Time­lines Mas­to­dons be­füllt wer­den (Quelle).

Vermutlich wird der Ton rauher wer­den, selbst wenn sich Be­nutz­er auf »Flausch-In­stan­zen« aus vielen Schar­müt­zeln raus­hiel­ten — auch Masto­don hat einen Al­go­rith­mus, der ent­scheidet, welche Bei­träge von an­der­en In­stan­zen in die Time­line der lo­kalen Ins­tanz über­nom­men wer­den. Und der ist insofern interessant, als daß hier vorallem ›Followership‹ zählt: in meine lokale Instanz werden Inhalte reingezogen, die von Accounts erzeugt werden, denen lokale Nutzer folgen. Ersteinmal eher logisch — alles und jedes überallhin zu verteilen ist aufwendig. Been there, done that im Usenet — kann man machen, hat aber gerade bei kleinen Instanzen ein schlechtes Signal-to-Noise-Ratio. Hingegen erscheint es sinnvoll, aus dem globalen Datensalat nur das ›nach Hause‹ zu holen, woran man dort auch interessiert ist.
Allein: kleine Instanzen haben somit einen sehr speziellen Blick auf die globale Timeline, auch mittelgroße selektieren latent sehr stark, sollte es keine stark divergierende Nutzergruppe sein. Thematisiert ›man‹ bei Twitter die Bubbles, was soll man dann bei kleinen Mastodon-Instanzen sagen? Das ist latent zementierte Eintönigkeit … Auf der anderen Seite wird vor großen Instanzen aktiv gewarnt:

It’s a really bad idea to join a big server!
Joining a big server is not going to get you any advantages on the Fediverse.

Bigger servers do not mean bigger audiences because federated servers talk to each other seamlessly. The number of people you can interact with is the same whether you’re on a large or small server. Some people even run their own single user servers where they are literally the only member, yet they are able to interact with any of the millions of other people on the Fediverse.

You can follow your friends even if they’re on totally different servers, and the experience of following each other will be exactly the same as if you were on the same server.

[mastodon.social became a very big server mainly because it was the first Mastodon server]

Bigger servers tend to actually be much lower quality servers because there’s a much smaller staff-to-user ratio. On bigger servers the moderators have to spend a lot longer dealing with reports etc. and won’t have time for queries from users. Admins and moderators on smaller servers tend to have far more time for their members, so there’s a friendlier community atmosphere.

However, the worst problem about joining a big server is this: if everyone goes on the same big server, sooner or later it will be bought out by someone nasty. It’s really really important that we join medium and small servers instead of big ones. A spread out network where people are on lots of servers is practically impossible for anyone to buy. Joining medium and small servers protects everyone on the network from the Elon Musks of this world.

Und ja, auch die Argumentation verfängt; was also tun? Augenscheinlich sollte ein Mastodon-Server im Fediverse eine Nutzerzahl in drei- bis vierstelliger Zahl (diversifizierter Blick auf den föderierten Stream) sowie jenseits 2-3 Moderatoren haben und auch ausreichend unabhängig finanziert sein? Naja, mit ein- bis fünfhundert Nutzern könnte ich leben; aber aufgrund des privaten Charakters des Servers müßte ich auch all diesen Leuten trauen, weder KiPo zu posten noch Sprengsatzfantasien zu Scholz oder Last Generation  zu thematisieren …

Man wird sehen, wohin die Reise geht. Ich finde den Fediverse-Ansatz gut, das Blogoverse ist ja leider so schnell verschwunden, wie es hochgelobt wurde; der Weg von zentralen Diensten zu lokal betriebenen, föderierten, ist an sich ein guter. Womit zu rechnen ist: statt des globalen Failwhales wird es lokale Ausfälle geben, wenn einzelne Instanzen Wartungsfenster oder Probleme haben. Isso. Auch Twitter wird sicher nicht von heute auf morgen durch Mastodon und das Fediverse ersetzt werden — allein, wenn sich im Fediverse eine relevante Gegenöffentlichkeit findet, z. B. auch die Probleme der zentralen Plattformen zu thematisieren – ohne Angst vor Repressalien in diesen Diensten –, wären wir schon einen großen Schritt weiter.